21. Februar 2024

Herr Warda, können wir nach Berlin fahren?

Eine Schulgeschichte von Janosch Warda, Fellow 2021-23, und seiner Schülerin Beyza.

Mannheim. Neckarstadt-West. „Problembezirk“. Eine Werkrealschule.

Vielen Schüler:innen erlauben ihre Eltern nicht mit der Schule weit weg auf Klassenfahrt zu fahren. Zwischen 2020 und Anfang 2022 gab es wegen Corona sowieso kaum Fahrten. Viele der Familien haben nicht viel Geld. All das heißt: Teurere Klassenfahrten sind generell schwierig.

An dieser Schule habe ich gemeinsam mit einem Lehrer die Medien-AG „Humboldt TV“ betreut. In meinem ersten Jahr als Fellow entstand eine Reportage über die Tafel in Mannheim.

Schon seit mehreren Jahren ist Beyza Teil der AG. Beyza geht in die 9. Klasse und hat eigentlich immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Vielleicht hat sie sich auch deshalb getraut, mich im Oktober 2022 zu fragen: „Herr Warda, können wir nach Berlin fahren?“.

„Warum eigentlich nicht?“

Beyza war noch nie in Berlin, sie kennt die Stadt nur aus Social Media. Unbedingt wollte sie dort hin und all das, was sie auf ihrem Handybildschirm gesehen hat, mit ihren eigenen Augen sehen. Fast allen Schüler:innen der AG geht es ähnlich.

Aber man kann ja nicht einfach so mal nach Berlin fahren, sondern braucht dafür vor allem eines: Geld.

 

Grafik Brandenburger Tor Berlin

Und deshalb haben wir uns als Humboldt TV zusammen-gesetzt und gemeinsam überlegt, wie wir genug Geld zusammenbekommen. Es gibt Stiftungen, Fördergelder und auch Unternehmen, die für solche Fälle Geld bereitstellen. Aber darauf wollten wir uns nicht verlassen. Also haben wir uns entschieden, einen regelmäßigen Pausenverkauf zu machen.

Ich wollte die Jugendlichen nicht überfordern oder zu viel von ihnen verlangen und sagte deshalb: „Wir machen erstmal einmal pro Woche Verkauf und schauen dann weiter.“ Beyza und ein paar der anderen Jugendlichen meinten daraufhin erbost: „Das reicht nicht! Wir brauchen viel Geld!“ Sie wollten zweimal die Woche verkaufen. Und das haben sie dann auch gemacht.

Parallel haben wir Stiftungen und Unternehmen herausgesucht und angeschrieben. Die Ergebnisse waren leider ernüchternd.

Etwas anderes lief jedoch sehr gut: Denn es stellte sich die Frage, was wir als Medien-AG in Berlin machen wollen. Als interviewerprobte Gruppe kam uns die Idee, die direkt gewählte Mannheimer Bundestagsabgeordnete im Bundestag zu besuchen und zu interviewen. Auf unsere Anfrage erhielten wir dann schnell die Zusage. Der Bundestag hat sogar die Fahrtkosten nach Berlin übernommen.

Für den Pausenverkauf erstellten wir Schichtpläne: Wer bringt am Montag was mit, wer am Mittwoch? Und wer hilft beim Verkauf? „Und Herr Warda, bitte nicht die Kasse vergessen, sonst können wir nichts verkaufen!“

Nach dem ersten Verkauf haben wir gespannt das Geld gezählt. „Boah, wenn wir jedes Mal so viel Geld einnehmen und das zwei Mal die Woche und es sind noch etwa sechs Monate bis zum Sommer, dann hätten wir ja…“ Natürlich haben wir dann nicht jede Woche zweimal verkauft. Manchmal haben wir gar nichts verkauft. Aber wir haben nie aufgehört und immer weiter gemacht. Auch, weil Beyza die anderen Schüler:innen immer wieder motiviert hat.

Kuchen, Börek, Sarma, Brownies, Muffins, Sandwiches, Toast, Pfannkuchen, Waffeln, Croissants und noch weitere Leckereien boten wir regelmäßig an. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten: Es war immer lecker!

Zwischenzeitlich hatte Beyza noch organisiert, dass wir die übriggebliebenen Backwaren von einer türkischen Bäckerei haben durften, die wir dann am nächsten Tag in der Schule verkauft haben. Zeitweise wurden wir also auch zu Lebensmittelrettern.

Es dauerte nicht lange und wir hatten die ersten 100 Euro zusammen. Aber für Berlin braucht man Zugfahrten, Über-nachtungen, Verpflegung und Eintrittsgelder.

Zum Glück hatte ProFellow e.V. für größere Projekte bis zu 1.600€ Fördergeld ausgeschrieben und ich habe mich um den Projektantrag gekümmert.  Anfang März 2023 kam dann die Erlösung: ProFellow e. V. fand unser Projekt richtig cool und förderte uns mit 1.600 Euro. Nachdem ich allen die gute Nachricht übermittelt hatte, traf ich Beyza das nächste Mal in der Schule – sie über das ganze Gesicht gegrinst.

Zwei Schülerinnen mit Koffern
Schülerinnen und Schüler am Frühstückstisch

Berlin wurde endlich konkret. Interviewfragen für die Bundestagsabgeordnete wurden formuliert und ab-geschickt. Zugtickets und ein Hotel wurden gebucht. Außerdem hörte ich ungefähr zehn Mal die Woche die Frage, ob die Schüler:innen in Berlin dann auch mal allein unterwegs sein dürfen. Schulleitung und Eltern waren einverstanden.

Ich habe den Schüler:innen Bescheid gegeben, in wel-chem Hotel wir schlafen werden, woraufhin Beyza ALLES dazu recherchiert hat. Wie kommen wir von da in die Innenstadt? Und welche Cafés, Restaurants und Imbisse gibt es in der Nähe?

Im Juni 2023 war es dann endlich so weit: Montagmorgen ging es nach Berlin, am Donnerstag wieder zurück. Alle Schüler:innen waren SEHR pünktlich am Bahnhof und voller Vorfreude. Die Reise von Mannheim nach Berlin dauerte fast den ganzen Tag, weshalb wir am Abend nur noch spazieren und essen gegangen sind. 

Beyza hat sich sofort in Berlin verliebt: „Berlin ist so groß und es gibt S-Bahnen und U-Bahnen und es ist so anders als Mannheim.“ Überall gibt es Straßenmusiker – sogar in der U-Bahn. So was hat sie in Mannheim noch nie gesehen.

Beyza und ihre Freundinnen waren alle in einem Zimmer untergebracht. Das hat ihnen so gut gefallen, dass sie irgendwann zusammen nach Berlin in eine gemeinsame WG ziehen wollen.

Am Dienstag sind wir zum Spionagemuseum gefahren, wo Beyza der Lügendetektor am besten gefallen hat.

Danach sind wir zu einem Dönerladen gegangen, der auf TikTok viral gegangen war. „Döner mit Liebe“ und ein charismatischer Verkäufer kamen auf TikTok sehr gut an und die Schüler:innen wollten dort unbedingt hin. Unser Riesenglück war es, dass ebenjener Verkäufer sogar selbst vor Ort war. Ich musste mir von Beyza erklären lassen: „Der ist voll selten da!“

Nun war es endlich so weit und die Schüler:innen hatten den restliche Tag Freizeit. Ein halbes Jahr hatten sie darauf gewartet. Und dann? Na ja, Berlin kann auch echt anstrengend sein, weshalb doch erstmal alle zurück ins Hotel gefahren sind, um sich etwas auszuruhen.

Beyza und ihre Gruppe sind dann nochmal in die Innentadt gefahren, waren beim Fernsehturm und shoppen und haben sich Kreuzberg angeschaut. Ganz eventuell kamen sie auch ein bisschen später zum Hotel zurück, als vereinbart gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt gab es dann bei Beyzas Gruppe auch schon die Idee, in diesem Jahr nochmal privat in Berlin Urlaub zu machen.

Schülerin an einer Station im Spionagemuseum Berlin
Schülerin mit Kopfhörern an einer Station im Spionagemuseum Berlin
Schülerin und Lehrer stehen im Museum
zwei Schüler im Bundestag in Berlin

Mittwoch war dann der Besuch im Bundestag. Alle haben sich schick gemacht, waren zusammen frühstücken und sind nochmal die Interviewfragen und die Technik durchgegangen. Angekommen beim Bundestag mussten wir ein bisschen warten – viele andere Klassen waren dort. Aber als wir reindurften, gab es dann erstmal Mittagessen im Paul-Löbe-Haus. Es gab drei verschiedene Gerichte. Beyza hatte Spaghetti Bolognese. Eine von Beyzas Freundinnen hatte Kartoffelsuppe und die war leider gar nicht lecker. „Sie hat die Suppe nicht mal fertig gegessen!“

Nach dem Mittagessen mussten wir wieder ein bisschen warten, bis uns die Abgeordnete, Frau Cademartori, abgeholt hat. Später im Gespräch mit ihr stellte Beyza die Frage, warum der Pausenhof unserer Schule so schlecht ist und ob man daran nicht was ändern könnte. Frau Cademartori weiß davon und findet das auch nicht gut, aber der Denkmalschutz verhindert leider Veränderungen. Diese Antwort fand Beyza natürlich nicht gut. Aber Frau Cademartori, so ganz generell? „Echt süß und chillig“, sagt Beyza. „Auf den Fotos sah sie viel ernster aus.“ Sie und Frau Cademartori waren zufälligerweise auch fast im Partnerinnenlook und haben dann auch noch ein Selfie gemacht.

Danach durften wir an einer Plenarsitzung auf der Zu-schauer:innentribüne teilnehmen und noch hoch auf die Kuppel des Bundestages. Im Plenum war Beyza überrascht, wie wenig sich die Abgeordneten haben ausreden lassen. „Die haben dauernd ‚Buuuuuuh‘ geschrien.“

Nach einem schnellen Abendessen ging es zurück ins Hotel, wo sich alle nochmal frisch gemacht haben, denn an diesem Abend ging es noch in eine Jugenddisco. Diese mussten wir allerdings erst einmal suchen. Denn an der besagten Adresse waren nur Wohnhäuser und keine Jugenddisco. Eine ältere Dame lachte uns sogar aus, als wir nach der Disko fragten. Hier in der Nähe gäbe es keine. Mit etwas Verspätung haben wir die Disco dann aber doch noch gefunden.

Beyza und die anderen fanden es dort richtig cool und nachdem sie die anderen Lehrkräfte gefragt haben, blieben wir noch eine Stunde länger. Die Musik fand Beyza insgesamt gut. „Nur einmal kamen so richtig deutsche Lieder, wir sind dann kurz rausgegangen.“

Am Abreisetag hatte ich sogar Geburtstag und beim Frühstück hatten die Schüler:innen für mich einen kleinen Kuchen organisiert und „Happy Birthday“ gesungen. Es gab sogar noch ein paar Geschenke für mich. Unter anderem einen „Berlin“-Kühlschrankmagneten, damit ich diese AG-Fahrt nie vergessen werde.

Alle haben sich nochmal bei mir bedankt, denn sie fanden es richtig cool in Berlin. Ich erinnere mich noch daran, wie mir Beyza am Gleis auf dem Rückweg gesagt hat: „Herr Warda, Sie haben mir meinen Traum erfüllt!“ Humboldt TV gibt es schon einige Jahre und in dieser Zeit sind viele coole Videos, Interviews
und Reportagen entstanden. Aber eine AG-Fahrt hat es noch nie gegeben – also bis zu diesem Jahr.

Mannheimer Schüler und Fellow stehen in Berlin
Gruppe Schülerinnen und Schüler
Schülerin und Schüler in Jugenddisko in Berlin
Janosch Warda

Über Janosch

Janosch Warda war 2021 bis 2023 Fellow an der
Humboldt-Werkrealschule in Mannheim. Dort begleitete
er Schüler:innen im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“.
Janosch entdeckte als Fellow seine Leidenschaft für das
Unterrichten und die Arbeit an Schulen im
herausfordernden Umfeld. Seit Sommer 2023 arbeitet er
als Lehrkraft an der Quinoa-Schule in Berlin.

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